Der Wert der Zeit
„Meine Tage sind leichter dahingeflogen denn eine Weberspule,
und sind vergangen, dass kein Aufhalten dagewesen ist."
Hiob 7, 6
So wird so Mancher am Ende seines Lebens ausrufen, wenn er leider nur zu spät erfährt und einsieht, wie er diese Tage oder eigentlich sein ganzes Leben hätte benutzen sollen.
Und wer ist wohl schuld daran, wenn statt sich des größten und wichtigsten Wechsels zwischen irdischem und ewigen Sein zu erfreuen, dann der Mensch mit Zittern erschaut, wie fruchtlos und leichtsinnig er seine von Mir ihm angewiesene Zeit in nichtigen und schlechten Handlungen vergeudete, und statt ein Buch voll von guten und großen Werken, er ein leeres mit weißen oder gar mit schmutzig besudelten Blättern in die andere Welt mitbringt.
Hier auf dieser Erde ginge es noch an, wo der Mensch seine Leerheit und Schlechtigkeit unter wohlstudierten Manieren und Höflichkeitsgebärden verbergen konnte, oder seine soziale Stellung derart war, dass nur Wenige in sein Privatleben hineinsahen, wo dann der aufmerksame Beobachter die eigentlichen Triebfedern so mancher dem Anschein nach guten und edlen Taten erkannt hätte. Aber im Jenseits fallen alle diese Deckmäntel hinweg. Rang, Titel, Geld u. dergleichen Vorzüge gelten nicht mehr; arm und hilflos, wie der Mensch auf Erden kam, ebenso muss er wieder von derselben abgehen, nur den inneren Wert seiner Handlungen ins Jenseits mitbringend, in die neuen, ihm ungewohnten Verhältnis. Das ist das Los des Menschen.
Solches bedenke ein Jeder, dass er nicht wie Hiob ausrufen möge: „Leichter als eine Weberspule sind meine Tage dahingeflogen, und wie wenige habe ich benutzt, um meine geistige Mission auf dieser Erde zu vollführen!“
Traurig ist die Erinnerung an verschwendete oder übel zugebrachte Zeit, sie ist traurig darum, weil kein Verbessern derselben, kein Einbringen des Versäumten möglich ist.
Ich wählte diesen Text, um auch euch in's Gedächtnis zu rufen, dass die Zeit flieht, und ihr selbe benutzen sollt um Gutes zu tun, und an eurem Seelenheil zu arbeiten.
Die Zeit flieht und mit ihr euer irdisches Leben. Ihr wisst nicht, wie lange ich den Einen oder den Anderen noch auf dieser Erde pilgern lasse; jeder Augenblick ist für euch entscheidend, habt ihr ihn so benutzt, als wäre er der letzte eures Lebens, oder dass er der erste gute Anfang eines neuen, bis jetzt euch noch unbekannten Lebens und geistigen Fortschrittes und der Annäherungen zu Mir werde. Vergeudet eure Zeit nicht mit Pläneschmieden für die Zukunft, nicht mit Gedanken, was werden wir in der nächsten Stunde, am morgigen Tage etc. tun? – Wisst es, die Zukunft gehört Mir! und wie Ich die Verhältnisse des Einzelnen sowohl als der Völker und der ganzen Menschheit regle, das wisst ihr nicht, und wenn ihr es auch wüsstet, so würde es euch nicht frommen, denn ihr verstündet diese hieroglyphische Schrift Meiner Ratschlüsse und Anordnungen zur geistigen Ausbildung Aller doch nicht.
Benutzt also den Augenblick, der schnell vergeht, und bedenkt es wohl, der nie wieder zurückkehrt, zu etwas Gutem, sei es für euch selbst, sei es für den Nächsten.
Die Augenblicke – gut benutzt – geben das Baumaterial zum ganzen Lebens- und Prüfungsgebäude, welches ihr von Mir angewiesen seid, in die andere Welt mitzubringen.
Jeder gute Gedanke, jede gute Tat, selbst jeder gute Wille, alles dieses zusammen trägt dazu bei, dieses Gebäude fester, herrlicher und schöner zu machen; und muss es nicht für euch selbst ein beruhigender Anblick sein wie für einen Baumeister, wenn ihr am Ende statt einer schlechten halbverfallenen Bauernhütte mit durchlöchertem Dach und zerbrochenen Türen und Fenstern ein solides Gebäude vor euch stehen seht, das nicht allein dem Baumeister Ehre macht, sondern auch von Anderen bewundert auch selbe zu gleicher Arbeit aneifert.
Benutzt also die Zeit, die Trägerin der guten und bösen Gedanken und Taten, lasst keinen Augenblick vorübergehen, damit sein Verschwinden nicht Reue erwecke, oder euch den Gedanken auspresst: diesen Augenblick – wenn auch ein kleinster Zeitabschnitt meines Lebens – hätte ich besser benutzen können!
Bedenkt, euer Klagen hilft nichts, der verschwundene Augenblick kehrt nie mehr zurück, und ist mit seinem Tatenwert im großen Lebensbuch eingetragen.
Eben deswegen wählte Ich diesen Vers, um euch den Wert der Zeit etwas mehr vor eure Augen zu rücken; denn wenn ihr euer tägliches Leben und Wirken betrachtet, wie viele Zeit verschwendet ihr mit nichtssagenden Dingen, mit mondänen Beschäftigungen, mit eitlen Träumereien eurer Zukunft, die doch nie so sich gestaltet, wie ihr es wünscht, sondern wie Ich sie will. Ihr nehmt dieses Zeitverschwenden so leicht, als so wenig wichtig hin, so zwar, dass, würdet ihr das rollende Rad der Zeit von Meinem Gesichtspunkt aus betrachten, ihr mit Schaudern erstaunen würdet, welch eitle Verprasser des köstlichen Guts der Zeit ihr eigentlich seid.
Was ihr in der ganzen Unendlichkeit auch betrachten mögt, nichts hat den Wert und ist so wichtig als die Zeit!
Ohne Zeit gibt es keine Tat, keine Vergangenheit, keine Zukunft, ohne Zeit kann nichts geschehen; selbst Ich kann nichts wirken ohne Zeit.
Die Zeit ist der rechte Messer für die Schöpfungen, seien es göttliche oder menschliche. Die Zeit allein beweist der Schöpfung Kraft und ihre Ausdauer.
Im Raum ist die unendliche Idee als unbegrenztes Ding ausgedrückt, um aber die Unendlichkeit auch nur im entferntesten zu begreifen, müsst ihr den Zeitmesser anlegen. Die Entfernungen der Sonnen- und Weltsysteme, ihre Größen, ihre Lichtstärken, ihre wechselseitigen Wirkungen nur durch die Zeit sind sie bemessbar. Die Zeit gibt euch eine Idee Meiner Schöpfung, ihrer Größe und Meiner Allmacht.
Dort seht ihr, was die Zeit, in großen Zahlen geschrieben vor euer Auge gerückt, vermag, indem sie euch zu den schönsten Gefühlen anzuregen vermag, euch nach Betrachtung Meiner und Meiner Schöpfung Größe, im Vergleich mit eurer Winzigkeit zu dem Ausruf zwingt: „Was bin ich, o Herr, dass Du meiner gedenkst!“
Alles hängt vom Begriff der Zeit ab. Die Zeit hat weder Anfang noch Ende. Ihr habt wohl daran getan, die Zeit in ein Maß einzuteilen, damit ihr den Flug derselben ermessen könnt. Wohl getan habt ihr, Maschinen zu erfinden, die euch diesen Flug durch Stunden, Minuten und Sekunden anzeigen. Wohl habt ihr daran getan, diese Maschinen mit tönendem Glockenschlag zu versehen.
Aber wie wenige von euch denken daran, dass jeder Glockenschlag euch den Verlauf einer viertel-, halben oder ganzen Stunde anzeigt, die nie mehr zurückkehrt, und der Glockenschlag eigentlich mit der Frage euch mahnen sollte: „Siehst du die fliehende Zeit! In das Meer der Ewigkeit ist wieder eine Stunde versunken, ein Abriss deines, von dem Herrn dir bestimmten Lebens, wie hast du sie benutzt?“ O wenn euch doch oft dieser Gedanke bei jedem Stundenwechsel durchzuckte, wie oft würdet ihr mit Staunen bemerken, dass wieder ein Zeitabschnitt eures Lebens, von dem ihr einst Rechenschaft geben müsst, unbenutzt hinabgerollt ist in den ewigen Strom der Unendlichkeit, von wo er nie mehr zurückkehrt.
Benutzt also eure Zeit, auf dass ihr nie und wohl gar am Ende eures Erdenlebens ausrufen müsst: „Wie schnell verschwindet die Zeit! Wie die Spule an der Bank des Webers bin und her gleitet, und durch sein eifriges Bewegen am Ende doch etwas Ganzes, Nützliches zusammenbringt, als ein Stück Leinwand oder Zeug, und zwar aus lauter kleinen Zeitabschnitten, ebenso möge mein Lebensschifflein, das während meines irdischen Lebenswandels auf dem uferlosen Ozean auf dessen ungefurchten Wellen leicht herumgaukelte, ebenfalls etwas Ganzes für mein jenseitiges Leben Nützliches geschaffen haben.
Möge die Benutzung der Zeit nach dem Willen meines allerliebevollsten Vaters dazu gedient haben, meinen geistigen Seelenleib aufzubauen, damit ich am Ende meiner Laufbahn, wenn die ewig bewegliche flüchtige Zeit mir ein „Halt“ zuruft, ich auch mit Trost zum Vater aufblicken und vielleicht mit ruhigem Herzen ausrufen kann: Ich habe doch nicht umsonst gelebt! Ich habe meine gleich einer flüchtigen Weberspule dahinfliegende Zeit und ihre partiellen Abschnitte, die Augenblicke benutzt, so gut es in meinen Kräften stand und die Umstände es zuließen! Sollten in meinem Lebensbuch weiße oder gar schmutzige Blätter sich vorfinden, so decke Du, o Herr, dieselben mit Deiner Gnade zu, und verzeih dem Kind, wenn es fehlte, wo ihm die Kraft der Ausharrung gebrach!“
So, Meine Kinder, betrachtet die Zeit, die Trägerin alles Lebens; ohne Zeit ist kein Leben, und ohne Leben keine Zeit!
Euer Leben soll der Zeit den Adel auf die Stirn drücken, den Adel der guten Taten. Die Zeit soll für euch der Grundbau eures Ichs und für Mich die Stütze und der Hebel sein, womit Ich euch zu Mir erheben kann. Amen.
Quelle: Lebenswinke, Neu-theosophische Schrift Nr. 39, Kundgabe vom 24. September 1870