PREDIGTEN DES HERRN
- Originaltext nach der Erstausgabe von 1892 -
35.
Am neunten Sonntag nach Pfingsten
Die Trauer des Herrn über Jerusalem
Lukas 19,41-44: Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt an und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten; und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem anderen lassen, darum dass du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist.
Empfangen am 12. April 1872
Das Schicksal Jerusalems
Schon in den Zentralsonnen [1], die euch als Folge der Mitteilungen über die geistige Sonne [2] gegeben wurden, findet ihr erklärt, was es heißen will: Und Jesus weinte. – Diese Worte drücken in geistiger Beziehung den tiefsten Schmerz eines Gottes aus, Der Seinen Kindern Sein ganzes Himmelreich auf diese Erde brachte, ihnen ihren Herrn und Schöpfer aller Welten und Wesen, Ihn, den Ausdruck der höchsten Liebe, Demut und Gnade, in sichtbarer Gestalt zeigte, und die Verblendeten Ihn trotz alle dem nicht erkannten, ja an Ihn verübten was nur Verächtliches und Schmerzliches an einem Menschen geschehen kann, und auch Seine Lehre der Liebe und Versöhnung mit Füßen traten. Und eben diese große Verblendung Meiner Zeitgenossen bis auf wenige war es, die Mir die Wehmutstränen auspresste, denn eine solche Verblendung des von Mir auserwählten Volks musste notwendig zum gänzlichen Verfall desselben führen, das Volk musste seine Selbständigkeit einbüßen, und sein Reich samt dessen Hauptstadt mussten zerstört werden.
Meine Jünger und Anhänger, die in Meinem Einzug in Jerusalem den Gipfelpunkt Meiner Mission, wie sie sich denselben dachten, zu erkennen wähnten, frohlockten, aber den Pharisäern und Schriftgelehrten war das nicht recht, und sie forderten von Mir, dass Ich jene zurechtweise auf dass sie schwiegen, worauf Ich aber antwortete: Lasst sie frohlocken, denn wenn diese schweigen, so werden die Steine reden.
Ich wollte diesen betörten Menschen damit sagen, dass, wenn das Frohlocken Meiner Jünger sich in Trauer verwandeln wird, kurze Zeit darauf die Steine der zerstörten Mauern der Stadt und des Tempels laut genug zu ihnen reden werden, dass sie nicht erkannt haben, Wer dort in ihren Mauern unter Friedenspalmen einzog; dass sie, die nur nach weltlichem Glanz und Prunk und nach einem weltlichen Messias sich sehnten, der sie womöglich in ihrem Wohlleben noch mehr bestärken und befestigen sollte, den wahren Messias, den göttlichen Lehrer und Seine himmlische Lehre leider nicht erkannt hatten.
Siebenundreißig Jahre nach Meinem Hingang ging Meine Vorhersage in tatsächliche Erfüllung [3]. Dieses von Mir auserwählte Volk hatte aufgehört als selbständiges Volk zu existieren, denn es hatte das geistige, höhere Leben des Menschen gänzlich vergessen und nur nach den Genüssen der Welt, nach Macht und Reichtum getrachtet; und so war es selbst die Ursache, dass sich Meine Weissagung an ihm erfüllen musste.
Die Verhältnisse in der Endzeit
So wie Ich in jener Zeit über die verirrten Bewohner Jerusalems wehklagte, weil sie Mich, Der Ich sie zu retten gekommen war, nicht erkannten und sogar zu töten suchten, so möchte Ich auch heute wieder wehklagen über so manchen Seelen, die Ich als Gott nicht retten kann wenn sie nicht freiwillig Meinem Ruf folgen, weil Ich ihnen die Freiheit des Handelns nicht nehmen darf.
Ich sehe, wie das Lebensschiff der Menschheit mit vollen Segeln gegen Felsen und Klippen steuert, und sehe, wie alle ihre Hoffnung und geträumte Glückseligkeit daran zerschellen wird, und sehe, wie viele Tausende und Abertausende zu spät erkennen werden, was sie hätten tun sollen. Auch zu ihnen möchte Ich sagen wie einst zu den Bewohnern von Jerusalem: Möchtet ihr doch erkennen zu dieser eurer Zeit was zu eurem Frieden dient, denn es wird eine Zeit kommen, wo ihr es bitter fühlen werdet, dass ihr die Zeit eurer Heimsuchung durch Meine Gnade und Meinen Segen nicht erkannt habt.
Auch jetzt wieder möchte Ich weinen und wehklagen über die törichte Menschheit, die, wie damals, ihre Lebensaufgabe, den Zweck ihres Daseins und des künftigen Lebens nicht erkennt, und so muss denn auf ganz natürlich-geistigem Weg die Rückwirkung eintreten, die Meinen göttlichen Gesetzen gemäß die Geister, Seelen und Wesen wieder in jene Schranken zurückweist, in denen nur allein sie den Grad der Vervollkommnung erreichen können, den Ich ihnen als höchstes Ziel gesetzt habe.
Traurig ist es oft für irdische Eltern, wenn sie sehen wie ihr Kind trotz all der Liebe, Sorgfalt und Aufopferung, die sie für dessen geistig-sittliche Erziehung verwendet haben, doch missrät und auf Abwegen wandelt, und statt ihnen einst der Trost und die Freude in ihren alten Tagen zu werden, dann mit Sorgen, Gram und Schande ihre Liebe vergilt. Aber was bleibt den Enttäuschten übrig? Sie können die Eigentümlichkeit des Kindes nicht beherrschen; es ist geistig frei und kann denken und tun, was es will. So sieht ein Elternpaar oft alle seine Hoffnungen, eine nach der anderen wie Luftschlösser verschwinden ohne im Mindesten helfen zu können.
Seht, was da den irdischen Eltern geschieht, das geschieht im verstärkten Grad Mir Selbst. Ich, der Schöpfer des ganzen Weltalls, muss zusehen, wie Meine Geschöpfe, die von Mir zu höchsten geistigen Würde erschaffen wurden, statt eingedenk ihrer hohen Abkunft zu sein und das Geistige zu suchen, gerade den verkehrten Weg gehen, das Geistige mit Füßen treten, verhöhnen und verlachen, es als Hirngespinst überspannter Glaubensschwärmer und Frömmler erklären, und den groben sinnlichen Genuss des weltlichen Lebens als das Höchste und Begehrenswerteste hinzustellen; Ich muss sehen, wie gerade das äußere Kleid als Hauptsache, der tiefe geistige Inhalt aber, der unter dieser Umkleidung steckt, als Nichts betrachtet wird.
Mahnruf an die Menschheit
Auch hier gilt was Ich einst zu den Pharisäern sagte: Wenn auch Meine Jünger und Anhänger schwiegen, so würden die Steine reden und euch zurufen: Wach auf, Mensch, aus deinem weltlichen Taumel; du suchst vergebens deinen Schöpfer, deinen Geist und seine Bestimmung wegzuleugnen, wenn du auch den Worten des Vaters, die Er dir als Jesus zur Zeit Seines sichtbaren Erdenwandels hinterlassen hat, keinen Glauben schenken, wenn du auch die Stimme im eigenen Herzen übertäuben wolltest, die dir als etwas Gewisses doch immer wieder zuruft und dich ermahnt, wenn du alles dieses wegleugnen wolltest, so betrachte einmal die Natur. Die eifrigsten Grübler, Naturforscher und Untersucher des Stoffs werden und müssen trotz ihres Sträubens doch einmal dazu kommen anzuerkennen, dass, erhaben über alles Stoffliche ein großer Geist lebt, Der die kleinsten Teilchen sowohl wie alle die Welten zu einem Ganzen vereinigt, und Der, wie aus allen Werken zu ersehen ist, nur ein Gott der Liebe, der Langmut und der Gnade sein kann, Der, wie im Beispiel vom verlorenen Sohn gesagt wurde, über einen reumütigen Sünder mehr Freude hat, als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße und des Trostes nicht bedürfen.
Es ist ein Gott, Der alles leitet und regiert! Dieser Ruf tönt aus Allem hervor, selbst die Verkettung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zeigt dem aufmerksamen Beobachter deutlich genug, dass nicht immer geschieht was der Mensch bezwecken will, sondern dass sowohl bei einzelnen Menschen wie bei ganzen Völkern das Endergebnis des Angestrebten oft ein ganz anderes als das Gehoffte ist.
Überall zeigt sich diese Macht der Gottheit, liebend dem Liebenden, zürnend dem Zürnenden und versöhnend dem Versöhnenden, und wie Ich einst über die Blindheit der Bewohner Jerusalems Tränen des höchsten Schmerzes vergoss weil Ich voraussah, wie diese verirrten Kinder Mich zuerst dem Körper nach, dann Meine Lehre geistig töten würden, dann als Nation aber auch selbst würden zu leben aufhören weil sie es nicht anders gewollt haben, ebenso füllt auch jetzt Mein Herz sich mit Trauer wegen der Blindheit der Menschen.
Überall lasse Ich Lichtfunken Meines Himmelslichts aufleuchten, und überall ruft euch die Vaterstimme zu: Kehrt um, ihr Betörten! Vernehmt Meinen Ruf, vernehmt die Stimme eures himmlischen Vaters ehe die große Wendung der Dinge eintritt; vernehmt die Stimme, die euch die Augen öffnen und euch zeigen will wie leichtsinnig ihr am Abgrund der Ewigkeit herumtaumelt, Betrunkenen gleich, und jeden Augenblick in Gefahr seid auf gar lange Zeit von selbem verschlungen zu werden, unreif, unzeitig, wo ihr dann nur mit vielen Beschwerden und großen Mühen einst erreichen könnt was hier in diesem irdischen Probeleben mit so leichter Mühe zu gewinnen gewesen wäre.
Die Wahrheit bricht sich Bahn
So wie damals nur kurze Zeit von Meinem Heimgang bis zur Zerstörung Jerusalems und zur Zerstreuung der Juden in alle Welt verlief, so wird es auch jetzt nicht gar zu lange währen bis eure jetzigen sozialen Verhältnisse zusammenbrechen werden.
Was damals einem Volk galt, das Mich verworfen hatte, das gilt jetzt allen Völkern, die Mich verworfen haben und eine Staatsreligion an Stelle Meiner unverfälschten Liebeslehre eingeführt haben.
Nach der Zerstörung Jerusalems hörte der jüdische Kultus als öffentlicher Kultus eines großen Volkes auf, und Meine Lehre fing an reichlicher Früchte zu tragen, aber mehr unter den Heiden als unter den Juden. Gerade so werden jetzt die Vertreter Meiner Lehre aufhören ihr sündiges Spiel mit Meinen Worten und Meiner Lehre zu treiben. Dort fielen die materiellen Mauern des Tempels, jetzt fallen die geistigen Schranken, die wie Mauern das Christentum umgeben, denn was bis jetzt zumeist Besitztum einer Kaste (der Priester) war, wird nunmehr Gemeingut aller werden. Dort blieb kein Stein auf dem anderen, Verwüstung und Gräuel nur bezeichnen noch die Stätte, wo der große Gott, aber falsch und unverstanden, verehrt wurde, und die zerstörten Ringmauern bezeichnen nur noch den Ort, wo einst die prunkende Hauptstadt eines großen und auserwählten Volkes gestanden hat, von dem Sich Gott abgewandt, weil es sich von Ihm abgewendet hatte.
Ebenso wird es jetzt im Geistigen werden, man wird nur mit Mühe erkennen können wo einst unter Lug und Trug die reine Wahrheit verborgen und vergraben lag; die Finsternis wird schwinden, und kein trübes Lampenlicht eines Tempelgewölbes sondern die allmächtige Sonne des geistigen Lichts wird alles erleuchten und erwärmen, und auf den Ruinen des Wahns und des Trugs wird der Baum der ewig grünenden Wahrheit gepflanzt werden, der stets nach oben, nach dem nie vergehenden Himmelreich zeigend, als Wegweiser den übrig gebliebenen Menschen dienen wird.
Aufgabe der wahren Nachfolger Jesu
Daher Meine Kinder, die Ich euch auserwählt habe, dereinst nach Zerstörung des Truggebäudes die ersten brauchbaren, festen Bausteine eines neuen Tempels, eines neuen Jerusalems zu sein, nehmt ihr wenigstens das Gnadenlicht, das Ich mit betrübten Augen und bekümmerten Herzen auf die große Masse der Verirrten scheinen lasse, mit freudig dankbaren Aufblick zu Mir in eure Herzen auf.
Einst wandelte Ich sichtbar unter Meinen Kindern, und nur wenige erkannten Mich; jetzt bietet sich die Gelegenheit abermals, dass ihr Mich durch Meine Worte und Werke als liebenden Vater erkennen und erfassen könnt; sucht ihr euch wenigstens vom allgemeinen Verfall zu retten, damit, wenn die Mauern des Alten, Angewohnten einstürzen werden, ihr aufrecht stehen bleibt; beweist durch eure Ausdauer, euer Vertrauen, dass, wenn Ich auch jetzt wieder über viele Verlorene Tränen des Schmerzes vergießen muss, es doch noch Einzelne gibt, die den Liebesblick des Vaters zu begreifen, zu verstehen wussten und die, trotz des vielen Traurigen das sie umgibt, ein Anhaltspunkt künftiger, nie versiegender Freude werden sollen.
Wenn andere Tränen des Mitleids verdienen, so trachtet danach, dass über euch, über euer Verhalten und eure Ausdauer in Meinem geistigen Reich nur Tränen der Freude und Wonne vergossen werden, die die größten Beweise eures Sieges sein sollen. Amen.
[1] Jakob Lorber, Grundlegende Schrifttexterklärungen in Nacherinnerungen zur geistigen Sonne, heute nur noch Schrifttexterklärungen genannt.
[2] Jakob Lorber, Die geistige Sonne (2 Bände)
[3] Jerusalem wurde im Jahr 70 nach Christi Geburt durch Titus zerstört..